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Verordnung zementiert Ungerechtigkeiten: Nachbesserungen nötigMedienmitteilung vom 03.11.2021: Verordnung zum Invalidenversicherungsgesetz

Inclusion Handicap unterstützte die IV-Weiterentwicklung, wie sie vom Parlament beschlossen wurde. Von der heute vom Bundesrat beschlossenen Verordnung ist der Dachverband der Behindertenorganisationen jedoch schwer enttäuscht. Die heutigen Beschlüsse des Bundesrats zur Invaliditätsbemessung und zur Vergabe der medizinischen Gutachten sind nicht nachvollziehbar und unfair gegenüber den Versicherten.

Die heute vom Bundesrat verabschiedete Verordnung ist ungenügend. Sie zementiert Ungerechtigkeiten in zwei wesentlichen Bereichen der Invalidenversicherung. Dies weil der Bundesrat sich in beiden Bereichen über die klaren Empfehlungen von Expertinnen und Experten hinweg setzt. Inclusion Handicap fordert eine gesetzliche Nachbesserung beim Einigungsverfahren und geeignete Instrumente zur fairen Bemessung der Invalidität.

Kein richtiges Einigungsverfahren bei medizinischen Gutachten

«Medizinische Gutachten sind entscheidend für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen und somit auch für ihre Ansprüche auf IV-Renten. Ein faires Verfahren ist daher enorm wichtig», so Petra Kern, Abteilungsleiterin Sozialversicherungen bei Inclusion Handicap. Zu häufig werden Gutachten so vergeben und geschrieben, dass möglichst keine IV-Rente resultiert. Umso wichtiger sind Möglichkeiten der Versicherten, sich gegen unseriöse medizinische Gutachter:innen zur Wehr zu setzen. Die Behindertenorganisationen und die Menschen mit Behinderungen setzten grosse Hoffnungen in die diskutierten Neuregelungen und erwarteten ein echtes Einigungsverfahren. Der Bundesrat stellte in Aussicht, die entsprechenden Empfehlungen eines selbst in Auftrag gegebenen Expertenberichts zu übernehmen.

Entschieden hat der Bundesrat nun etwas ganz Anderes: Es soll nur dann zu einem Einigungsverfahren kommen, wenn sich die versicherte Person aktiv gegen die von der IV vorgeschlagene Gutachterperson ausspricht. Viele Versicherte werden diesen Schritt gegen die IV nicht wagen. Mit diesem Entscheid stellt sich der Bundesrat hinter die fragwürdige Praxis der IV-Stellen bei der ergebnisorientiert gesteuerten Gutachtensvergabe und lässt Menschen mit Behinderungen im Stich. Inclusion Handicap erwartet daher eine gesetzliche Nachbesserung im Sinne der parlamentarischen Initiative von NR B. Roduit, 21.498 (externer Link), «Umsetzung des Berichts zur Evaluation der medizinischen Begutachtung in der IV», welche die vollständige Umsetzung der Empfehlungen des Expertenberichts bei der Vergabe von monodisziplinären IV-Gutachten fordert.

Unfaire Invaliditätsbemessung wird zementiert

Zur Berechnung des Invaliditätsgrades in der IV werden heute praxisgemäss statistische Werte aus der Lohnstrukturerhebung (LSE) herangezogen, sogenannte Tabellenlöhne. Dies um beurteilen zu können, welches Arbeitseinkommen mit einer Behinderung noch erzielt werden kann. Die statistischen Werte sind entscheidend, ob ein Anspruch auf eine IV-Rente besteht und wie hoch dieser ist. Die bisherige Praxis ist aber mangelhaft: Die verwendeten Lohntabellen der LSE wiederspiegeln weitgehend das Lohnniveau von gesunden Personen und überschätzen die Einkommensmöglichkeiten der betroffenen Personen mit einer Invalidität systematisch. Daraus resultieren zu tiefe Invaliditätsgrade, bei welchen keine oder zu tiefe Renten ausbezahlt werden. Mit der Einführung des stufenlosen Rentensystems wird eine genaue Berechnung des Invaliditätsgrades noch wichtiger, denn eine realitätsfremde Invaliditätsbemessung wirkt sich umgehend auf die Rentenansprüche aus.

Umso unverständlicher ist es, dass der Bundesrat mit seinem heutigen Beschluss nun - anstatt eine faire statistische Grundlage in die Wege zu leiten - die vom Bundesgericht lediglich als Übergangslösung bezeichnete Praxis zementiert und in die Verordnung geschrieben hat. Damit ignoriert der Bundesrat die Resultate der Anfang 2021 veröffentlichten Studie des Büros BASS «Nutzung Tabellenmedianlöhne LSE zur Bestimmung der Vergleichslöhne bei der IV-Rentenbemessung (externer Link)». Diese zeigt nämlich klar auf, dass die heutigen LSE-Tabellen für den Einkommensvergleich im Rahmen der IV-Rentenprüfung völlig ungeeignet sind. Inclusion Handicap kann den heutigen Entscheid des Bundesrates nicht nachvollziehen. Zumal auch die Sozialkommission des Nationalrats den Bundesrat einstimmig und damit über alle Parteigrenzen hinweg aufgefordert hat, eine neue Bemessungsgrundlage zu schaffen. Immerhin hat der Bundesrat dem Bundesamt für Sozialversicherungen den Auftrag erteilt, zu prüfen, ob die Entwicklung von spezifisch auf die IV zugeschnittenen Bemessungsgrundlagen möglich ist. Dies ist nur ein schwacher Trost. Wir erwarten, dass die Arbeiten umgehend an die Hand genommen werden und dass eine Lohntabelle entwickelt wird, welche realistische Erwerbseinkommen von Menschen mit Behinderungen aufzeigt und somit zu realistischen Invaliditätsgraden führt.

Auskunft für Medienschaffende

Petra Kern, Abteilungsleiterin Sozialversicherungen Inclusion Handicap
079 714 07 37,

Julie Tarchini, Kommunikationsverantwortliche Inclusion Handicap
031 370 08 41,