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TABELLENLÖHNE GEMÄSS SCHWEIZERISCHER LOHNSTRUKTURERHEBUNGBerechnung des Invaliditätsgrads

Zur Berechnung des Invaliditätsgrads in der IV werden heute in vielen Fällen statistische Werte aus der schweizerischen Lohnstrukturerhebung, sogenannte Tabellenlöhne, berücksichtigt. Diese Werte widerspiegeln aber weitgehend das Lohnniveau von gesunden Personen. Dadurch führen sie zu unfairen Entscheidungen bei Umschulungen und IV-Renten. Im Jahr 2022 hatte das Parlament einer Motion zur Überarbeitung der ungerechten Invaliditätsbemessung zugestimmt und forderte beinahe einstimmig eine fairere Bemessung des IV-Grads. Zum Unverständnis von Inclusion Handicap setzte der Bundesrat die Motion jedoch nicht korrekt um. Per 1.1.2024 führt er einen Pauschalabzug ein, der mit 10% tiefer ist als von Wissenschaft und Verbänden gefordert – wirklich fair ist die Bemessung des IV-Grads damit immer noch nicht.

Herbst 2021: Bundesrat zementiert unfaire Invaliditätsbemessung – Behindertenorganisationen reagieren mit Kritik

In der am 03.11.21 verabschiedeten Invalidenversicherungsverordnung (IVV) hat der Bundesrat trotz erheblicher Kritik aus Lehre und Praxis eine unfaire Invaliditätsbemessung zementiert (Medienmitteilung vom 03.11.21). Zur Berechnung des Invaliditätsgrads wird damit in vielen Fällen weiterhin auf statistische Werte aus der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) abgestellt, sogenannte Tabellenlöhne. Dies insbesondere um beurteilen zu können, welches Arbeitseinkommen mit einer Behinderung noch erzielt werden kann. Dass die hierzu verwendeten Lohntabellen der LSE weitgehend das Lohnniveau von gesunden Personen widerspiegeln und somit die Einkommensmöglichkeiten von Personen mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung systematisch überschätzen, hat die Anfang 2021 veröffentlichte Studie des Büros BASS «Nutzung Tabellenmedianlöhne LSE zur Bestimmung der Vergleichslöhne bei der IV-Rentenbemessung» (externer Link) aufgezeigt. 

Am 22.11.21 ist in der Schweizerischen Zeitschrift für Sozialversicherung und berufliche Vorsorge (SZS) Nr. 6/2021 eine Abhandlung von Prof. em. Dr. Gabriela Riemer-Kafka und Dr. phil. Urban Schwegler mit dem Titel «Der Weg zu einem invaliditätskonformeren Tabellenlohn» (externer Link) publiziert worden. Darin werden detaillierte Vorschläge für die Erstellung von Lohntabellen gemacht, die nach körperlichem Belastungsprofil differenzieren.

Frühling 2022: Bundesgericht hält an unfairer Praxis fest – Sozialkommission des Nationalrats verabschiedet Motion für invaliditätskonforme Tabellenlöhne

Das Bundesgericht hat sich in einem Urteil vom 09.03.22 (8C_256/2021) (externer Link) in einem Fall, auf den noch das bis 31.12.21 geltende Invalidenversicherungsgesetz (IVG) anzuwenden war, gegen eine Praxisänderung ausgesprochen und an den LSE-Tabellenlöhnen festgehalten (Medienmitteilung des Bundesgerichts vom 09.03.22) (externer Link).  

Am 17.03.22 hat der Ständerat anlässlich der Interpellation Germann 21.4522 (externer Link) über die stossende Praxis der Invaliditätsberechnung mittels Tabellenlöhnen diskutiert (News vom 21.03.22). Über die Parteigrenzen hinweg äusserten verschiedenste Ständerätinnen und Ständeräte, dass Handlungsbedarf bestehe. Deshalb wollte sich auch die Sozialkommission des Ständerates dem Problem annehmen. Der Bundesrat hingegen spielte weiterhin auf Zeit. Er wollte vorerst nichts ändern und stellte Anpassungsvorschläge frühestens 2025 in Aussicht.  

Am 06.04.22 hat sich die Sozialkommission des Nationalrats mit dem Thema der Tabellenlöhne befasst. Einstimmig hat sie die Motion 22.3377 (externer Link) verabschiedet. Damit soll der Bundesrat beauftragt werden, die Bemessungsgrundlage für die Berechnung des Invaliditätsgrads bis Ende Juni 2023 so anzupassen, dass bei der Ermittlung des Einkommens mit Invalidität mittels statistischer Werte realistische Einkommensmöglichkeiten von Personen mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung berücksichtigt werden.

Sommer 2022: Nationalrat heisst Motion ohne Gegenstimme gut – Ständerat verlängert Umsetzungsfrist

Am 01.06.22 hat der Nationalrat die Motion 22.3377 (externer Link) ohne Gegenstimme angenommen (Medienmitteilung vom 01.06.22). Die Sozialkommission des Ständerats behandelte die Motion am 30.06./01.07.22. Mit 12 zu 0 Stimmen bei einer Enthaltung beantragte sie ihrem Rat, die Umsetzungsfrist um ein halbes Jahr (bis Ende Dezember 2023) zu verlängern und die so angepasste Motion anzunehmen (Medienmitteilung vom 01.07.22). Am 26.09.22 ist der Ständerat dem Antrag seiner Sozialkommission gefolgt (Medienmitteilung vom 29.09.22). Erfreulich – allerdings galt es für Inclusion Handicap, weiterhin genau hinzuschauen, sowohl was den Zeitplan als auch die Art und Weise der Umsetzung anbelangt. Am Schluss der ständerätlichen Debatte hiess es von Seiten der Regierung nämlich, eine Umsetzung per Januar 2024 wäre nicht möglich. Es brauche deshalb allenfalls eine Übergangslösung mittels Pauschalabzügen.

Winter 2022: Motion wird von Nationalrat mit verlängerter Umsetzungsfrist angenommen – unfaire Tabellenlöhne können überarbeitet werden

Am 11.11.22 folgte die Sozialkommission des Nationalrats wiederum dem Ständerat, indem sie ihrem Rat beantragte, der Verlängerung der Umsetzungsfrist bis Ende Dezember 2023 zuzustimmen. Sie bestätigte klar, dass es Verbesserungen braucht und die bisher angewendeten Werte realitätsfern sind (Medienmitteilung vom 11.11.22). Am 14.12.22 befasste sich der Nationalrat in der Wintersession 2022 schliesslich erneut mit der Motion. Gemäss dem Antrag seiner Sozialkommission stimmte er einer Überarbeitung der unfairen Tabellenlöhne auch mit verlängerter Umsetzungsfrist zu – für Menschen mit Behinderungen ein wichtiger, aber schon lange fälliger Schritt (Medienmitteilung vom 14.12.22).

April 2023: Bundesrat eröffnet die Vernehmlassung zur Änderung der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV) – Umsetzung der Motion SGK-N 22.3377

Weil der Bundesrat die Entwicklung invaliditätskonformer Lohntabellen als zu komplex und zu aufwändig betrachtet, schlägt er vor, die bei der Bestimmung des Invaliditätsgrads angewendeten Tabellenlöhne pauschal um 10% reduzieren.

Ende Mai 2023: Inclusion Handicap fordert in seiner Vernehmlassungsantwort einen Pauschalabzug von 17% sowie je nach Fallkonstellation individuelle Abzüge

Der vom Bundesrat vorgeschlagene Pauschalabzug vom Tabellenlohn von 10% ist für Inclusion Handicap zu wenig, denn nur mit einem Abzug von 17% und mit der Möglichkeit von zusätzlichen individuellen Abzügen resultieren realistische Einkommensmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen. Der Bundesrat gibt an, dass er sich bei seinem Vorschlag an eine Studie des Büros BASS anlehne. Mit einem Pauschalabzug von lediglich 10% tut er dies aus Sicht von Inclusion Handicap aber nicht wirklich: Aus der vom Bundesrat zitierten Studie des Büros BASS (externer Link) und dem darauf basierenden Diskussionspapier (externer Link) geht vielmehr hervor, dass die Tabellenlöhne für alle um rund 17% gesenkt werden müssten und dass je nach Fallkonstellation zusätzlich noch individuelle Abzüge notwendig wären. Die Vernehmlassungsantwort von Inclusion Handicap und die entsprechende Medienmitteilung können im Abschnitt unten heruntergeladen werden.

Oktober 2023: Bundesrat beschliesst einen Pauschalabzug von 10% ab 1.1.2024 – ein Schritt in die richtige Richtung, aber Tabellenlöhne bleiben weiterhin unfair

Am 18.10.23 verabschiedete der Bundesrat die Änderung von Art. 26bis Abs. 3 IVV. Damit führt er einen Pauschalabzug von 10% ein (Medienmitteilung vom 18.10.2023). Dies bedeutet: Ab 1.1.2024 wird das auf einem Tabellenlohn basierende hypothetische Einkommen pauschal um 10% reduziert. Aus der Sicht von Inclusion Handicap wurde die Motion 22.3377 (externer Link) damit nicht korrekt umgesetzt. Gemäss der Studie des Büros BASS würden nur ein Pauschalabzug von 17% sowie zusätzlich mögliche individuelle Abzüge zu realistischen Einkommensmöglichkeiten führen. Der Bundesrat hat es damit verpasst, dafür zu sorgen, dass der IV-Grad anhand realistischer Einkommensmöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen berechnet wird. Der ab 1.1.2024 geltende Pauschalabzug von 10% ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung und eine klare Verbesserung. Trotzdem erhalten viele Personen mit dieser Lösung immer noch keine Umschulung oder keine bzw. zu tiefe IV-Renten. Inclusion Handicap wird sich weiterhin dafür einsetzen, dass der IV-Grad auf faire Weise berechnet wird.

Wichtig zu wissen: Innerhalb der nächsten drei Jahre werden auch bereits laufende Renten, bei denen der IV-Grad mittels Tabellenlöhnen berechnet wurde, angepasst. Dies gilt allerdings nicht für Rentenbeziehende, die am 1.1.2022 bereits das 55. Altersjahr erreicht hatten. Und auch Personen, deren Umschulungs- oder Rentenanspruch abgelehnt wurde, können sich neu bei der IV anmelden, wenn sie aufzeigen können, dass ihr IV-Grad mit dem neuen Pauschalabzug die notwendige Schwelle erreicht (IV-Grad von mindestens 40% für eine IV-Rente und rund 20% für eine Umschulung).

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