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Handicap und Politik 07/2022

Handicap und Politik 07/2022

In Handicap und Politik 07/2022: Die Vorschau auf die Wintersession, ein Kurzrückblick auf die Einreichung der Petition «Lasst uns nicht hängen!», Empfehlungen der UNO zur Situation von Frauen mit Behinderungen in der Schweiz und die Meldung zu einem wichtigen Schritt in Richtung fairere medizinische IV-Gutachten.


Vorschau auf die Wintersession: Nationalrat

Istanbul-Konvention: Massnahmen sollen auch für Menschen mit Behinderungen gelten

28. November; Mo. Ständerat 22.3233 (Carobbio Guscetti): Die Motion von Marina Carobbio Guscetti will den Bundesrat beauftragen, gemeinsam mit den Kantonen und den Behindertenorganisationen, Programme und Projekte zur Verhinderung von häuslicher und sexueller Gewalt gegen Personen mit Behinderungen – insbesondere von Gewalt gegen Frauen und Menschen mit nichtbinärer Geschlechtsidentität – zu entwickeln und umzusetzen. In seinem Schattenbericht zur Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention hatte Inclusion Handicap im Februar 2022 bereits auf die erhöhte Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen aufmerksam gemacht und mehr Massnahmen und Projekte zur Entwicklung, Förderung und Stärkung der Autonomie sowie zur Verhinderung von Mehrfachdiskriminierungen gefordert. In der diesjährigen Sommersession hat der Ständerat die Vorlage bereits gutgeheissen. Frauen mit Behinderungen werden bei den Massnahmen zur Istanbul-Konvention noch zu wenig berücksichtigt. Inclusion Handicap empfiehlt deshalb, dem Ständerat zu folgen und die Motion anzunehmen.


Faire Tabellenlöhne bei der Berechnung des IV-Grads gefordert

28. November; Mo. SGK-N 22.3377: Der Nationalrat befasst sich erneut mit der Motion 22.3377 der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK-N). Die Motion fordert invaliditätskonforme Tabellenlöhne bei der Berechnung des Invaliditätsgrads. Nachdem der Ständerat die ursprünglich per Ende Juni 2023 vorgesehene Umsetzungsfrist zur Erarbeitung und Implementierung einer faireren Invaliditätsbemessung bis Ende Dezember 2023 verlängert hat, beantragt die SGK-N bei ihrem Rat einstimmig, dieser Verlängerung zuzustimmen. Heute wird das mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung noch realistisch erzielbare Einkommen meist mit Hilfe von statistischen Werten (Tabellenlöhnen) bestimmt – oft sind diese zu hoch. Der Bundesrat soll deshalb bis zum 31. Dezember 2023 eine Bemessungsgrundlage implementieren, die realistische Einkommensmöglichkeiten berücksichtigt. Für Inclusion Handicap ist die Überarbeitung der Bemessungsgrundlagen unter Berücksichtigung statistischer Methodik und dem Stand der Forschung - wie es der Motionstext verlangt - zentral. Daher unterstützt der Dachverband das Anliegen und empfiehlt dem Nationalrat, die Motion auch mit der verlängerten Umsetzungsfrist anzunehmen.


Keine Kürzung der Hilflosenentschädigung für Kinder, deren Heimaufenthalt durch Eltern finanziert wird!

15. Dezember; Mo. SGK-N 22.3888: Die Motion der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK-N) verlangt folgende Änderung der Rechtsgrundlagen: Kinder mit Behinderungen sollen Anspruch auf eine ungekürzte Hilflosenentschädigung der IV haben, wenn sie in einem Heim übernachten und die Kosten für diesen Aufenthalt von ihren Eltern und nicht von der öffentlichen Hand bezahlt werden. Für Inclusion Handicap ist klar: Eltern, die die Kosten für Entlastungsübernachtungen ihrer Kinder in externen Betreuungsangeboten selbst finanzieren, sollen keine Kürzung der Hilflosenentschädigung in Kauf nehmen müssen. Daher unterstützt der Dachverband das Anliegen und empfiehlt dem Nationalrat die Motion zur Annahme.


Das selbstbestimmte Wohnen für Menschen mit Behinderungen im AHV-Alter verbessern

15. Dezember; Mo. SGK-N 22.4261 und Po. 22.4264: Die Sozialkommission des Nationalrats will mit zwei Vorstössen die Voraussetzungen für das selbstbestimmte Wohnen von Rentner:innen mit Behinderungen verbessern und so unter anderem Heimaufenthalte vermeiden. Mittels einer Motion (22.4261) soll der Bundesrat beauftragt werden, die Liste der Hilfsmittel zu erweitern, die von der AHV vergütet werden. Grund ist, dass Hilfsmittel wie Hörgeräte, Rollstühle oder der weisse Stock in der AHV nur zurückhaltend gewährt werden. Zudem soll der Bundesrat im Rahmen eines Postulates (22.4262) prüfen, inwiefern analog zur Invalidenversicherung auch in der AHV Assistenzbeiträge gewährt werden sollen. Behinderungen im Alter werden mit der demografischen Entwicklung ein immer wichtigeres Thema. Deshalb begrüsst Inclusion Handicap die Vorstösse und empfiehlt sie dem Nationalrat zur Annahme.


Vorschau auf die Wintersession: Ständerat

Bei BVG-Reform ist Gleichbehandlung gefordert

29. November; BVG-Reform 20.089: Nachdem der Ständerat die BVG-Reform in der Sommersession 2022 an die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates (SGK-S) zurückgewiesen hatte, befasst er sich am 29.11.2022 inhaltlich mit diesem Geschäft. Dabei hat der Ständerat zwischen mehreren Kompensationsmodellen zu entscheiden, die die Senkung des Mindestumwandlungssatzes ausgleichen sollen. Erfreulicherweise sehen alle von der SGK-S vorgelegten Modelle nicht nur für Altersrenten, sondern auch für Invalidenrenten einen Rentenzuschlag vor. In der letztjährigen Wintersession hatte dies noch anders ausgesehen: Der Nationalrat hatte den Rentenzuschlag für Invalidenrenten gestrichen. Inclusion Handicap hat sich in der Folge für eine Gleichbehandlung der Renten stark gemacht und ist weiterhin der dezidierten Ansicht, dass alles andere als eine Gleichbehandlung von Invaliden- und Altersrenten nicht akzeptabel ist. Der Dachverband fordert den Ständerat auf, der Minderheit II zu folgen, die eine grosszügigere Regelung der Übergangsgeneration vorsieht.


Zieht Ständerat bei Teuerungsausgleich nach?

29. November 2022; 22.3792 Mo. Nationalrat (Fraktion Mitte): Der Nationalrat hat im vergangenen September die Motion «Kaufkraft schützen» der Mitte-Fraktion (22.3792) angenommen. Der Vorstoss verlangt eine ausserordentliche Anpassung der AHV- und IV-Renten sowie der Ergänzungsleistungen und der Überbrückungsrenten an die Teuerung bis zum 1. Januar 2023. Zudem beauftragt er den Bundesrat, bis Anfang 2023 ein Konzept vorzulegen, wie die ordentlichen Renten bei einer überdurchschnittlichen Teuerung regelmässig angepasst werden können. Inclusion Handicap unterstützt die dringliche Anpassung und fordert den Ständerat auf, die Motion anzunehmen.


Gebärdensprache soll gesetzlich anerkannt werden

12. Dezember 2022; 22.3373 Mo. Nationalrat (WBK-NR): Eine Motion der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur des Nationalrats beauftragt den Bundesrat, ein Gesetz zur rechtlichen Anerkennung und Förderung der drei Schweizer Gebärdensprachen auszuarbeiten. Dieses Gesetz würde die Chancengleichheit insbesondere in den Bereichen Information, Kommunikation, politische Partizipation, Dienstleistungen, Bildung, Arbeit, Kultur und Gesundheit vorantreiben. Die Motion wurde im vergangenen Juni vom Nationalrat angenommen. Inclusion Handicap erwartet nun vom Ständerat, dass er die gesetzliche Anerkennung der Gebärdensprachen ebenfalls ernst nimmt und das Anliegen gutheisst.


Entschuldung der Invalidenversicherung: weiterer Leistungsabbau muss verhindert werden

12. Dezember 2022; 22.4256 Mo. SGK-SR: Die IV hat heute gegenüber der AHV eine Darlehensschuld von noch rund 10 Mrd. Franken. Der Bundesrat soll mit der Kommissionsmotion beauftragt werden, dem Parlament bis Ende 2023 eine Vorlage zur Tilgung oder Übernahme der Schuld der IV bei der AHV durch den Bund vorzulegen. Die Modalitäten werden offengelassen. Die strukturelle Entflechtung von IV und AHV ist zwar grundsätzlich richtig. Für Inclusion Handicap ist aber auch klar: Die Tilgung oder Schuldübernahme durch den Bund darf nicht zu noch mehr Leistungsabbau bei der IV führen. Dagegen würde sich der Dachverband entschieden wehren. Vieles würde von der genauen Ausgestaltung der Entschuldung abhängen. Gemäss den aktuell geltenden Finanzperspektiven ist zudem eine Entschuldung der IV aus eigenen Kräften immer noch realistisch, auch wenn sich die Rückzahlung verzögert.


Welche vorsorglichen Massnahmen sieht der Bundesrat bei einer Strommangellage für Menschen mit Behinderungen vor?

13. Dezember 2022; 22.4055 Ip. Graf Maya: Vor dem Hintergrund möglicher Engpässe bei der Energieversorgung ist Inclusion Handicap besorgt über die Auswirkungen von Energiesparmassnahmen oder potenziellen Stromunterbrüchen für Menschen mit Behinderungen. Für autonom zu Hause lebende Betroffene ist es problematisch, elektrisch betriebene Anlagen (Personenfahrstühle, Hebehilfen, Gebäudetechniksysteme, Warngeräte usw.) auch nur zeitweise nicht benützen zu können. Für jene mit Sehbehinderungen würde ein Herunterfahren der Strassenbeleuchtung den Zugang zum öffentlichen Raum verunmöglichen. Inclusion Handicap hofft, dass die Interpellation von Ständerätin und Co-Präsidentin von Inclusion Handicap Maya Graf (22.4055) sowie auch eine Interpellation von Christian Lohr zum gleichen Thema (22.4027), welche den Bundesrat auf die Problematik hinweisen, vom Parlament positiv aufgenommen werden. Inclusion Handicap wird die Situation aufmerksam verfolgen.


Politische Vorhaben

Schaffung einer nationalen Menschenrechtsinstitution in der Schweiz

Die nationale Menschenrechtsinstitution (NMRI) wird bald Wirklichkeit. Am 1. Oktober 2021 hat das Parlament die Vorlage zur Schaffung einer NMRI in der Schweiz verabschiedet. Damit wird das Pilotprojekt des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte (SKMR) per 2023 durch eine dauerhafte Institution zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte in der Schweiz abgelöst. Die mit der Gründung der NMRI beauftragte Arbeitsgruppe des EDA stellt die geplante Struktur am Donnerstag, 1. Dezember, von 17 bis 20 Uhr im Casino Bern der interessierten Öffentlichkeit vor. Reservieren Sie sich dieses Datum!  

Schon jetzt klar ist, dass die NMRI ressourcentechnisch nur minimal ausgestattet ist, um ihre vielfältigen Aufgaben wahrnehmen zu können. Im Rahmen der Budgetdebatte werden in der Wintersession noch Anträge um eine Aufstockung der Mittel ab 2024 gestellt. Diese unterstützt Inclusion Handicap und empfiehlt deren Annahme.


Über 13'000 Personen unterschreiben Petition zur Ratifizierung des BRK-Zusatzprotokolls

Inclusion Handicap hat die Petition «Lasst uns nicht hängen : Ratifikation BRK-Zusatzprotokoll, JETZT!» zu Handen des Bundesrates übergeben. Die Ratifizierung des Zusatzprotokolls ist ein zentrales Anliegen für die Rechte von Menschen mit Behinderung, denn die UNO-Behindertenrechtskonvention wird in der Schweiz immer noch mangelhaft umgesetzt. Die Petition wurde am 21. Oktober mit über 13'000 Unterschriften übergeben. Inclusion Handicap erwartet vom Bundesrat, dass er die Ratifikation des BRK-Zusatzprotokolls nun unverzüglich an die Hand nimmt.


Empfehlungen des UNO-Ausschusses hinsichtlich der Rechte von Frauen mit Behinderungen

Der UNO-Frauenrechtsausschuss (CEDAW-Comittee) veröffentlichte Ende Oktober 2022 seine Empfehlungen nach Abschluss der Überprüfung der Schweiz zur Umsetzung der Frauenrechtskonvention. Im Rahmen ihrer Advocacy-Arbeit hatte Inclusion Handicap in Zusammenarbeit mit avanti donne im Mai 2021 die Situation und Rechte von Frauen und Mädchen mit Behinderungen in der Schweiz im Schattenbericht der NGO-Koordination post Beijing Schweiz (externer Link) dargestellt und auf Missstände aufmerksam gemacht. Der nun veröffentlichte UNO-Bericht enthält konkrete Empfehlungen. Im Bereich Arbeit empfiehlt der Ausschuss beispielsweise temporäre Spezialmassnahmen wie Quoten zur Förderung der Frauen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt. Er sieht zudem eine spezifische Armutsgefährdung von Frauen mit Behinderungen und empfiehlt, den Zugang zu adäquaten Invalidenrenten sicherzustellen. Bezüglich Sterilisationen bekräftigt der Frauenrechts-Ausschuss die Empfehlung des UNO-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom März 2022 und sagt klar: Zwangssterilisationen gehören verboten. Zurzeit läuft eine Petition von avanti donne zu diesem Anliegen.


Schritt in Richtung fairere Verfahren bei IV-Gutachten

Medizinische Gutachten der Invalidenversicherung (IV) sind häufig umstritten – viele Betroffene fühlen sich nicht fair behandelt. Inclusion Handicap hat deshalb seit Februar 2020 eine Meldestelle für Betroffene eingerichtet. Am 11. November 2022 hat die Sozialkommission des Nationalrats einen Schritt in Richtung mehr Fairness bei den medizinischen Gutachten der IV gemacht. Sie hat eine parlamentarische Initiative (21.498 (externer Link)) gutgeheissen, welche verlangt, dass sich die IV-Stelle und die versicherte Person bei monodisziplinären Gutachten (Begutachtungen mit nur einer medizinischen Disziplin) jeweils auf eine:n Sachverständige:n einigen. Zudem soll der Ablauf des Einigungsverfahrens den Empfehlungen einer Evaluation entsprechen, die vom Eidgenössischen Departement des Innern EDI zu den medizinischen Begutachtungen in der IV in Auftrag gegebenen wurde. Ein faires Einigungsverfahren hat viele Vorteile: Unnötige Gerichtsstreitigkeiten über die Wahl der Sachverständigen entfallen und die Resultate werden gestärkt. In anderen Rechtsgebieten (z.B. beim Haftpflichtrecht) ist dies längst Standard. Nun ist die Sozialkommission des Ständerats am Zug.


ÖV

4. EU-Eisenbahnpaket hat weitreichende Auswirkungen auf die Rechte von Menschen mit Behinderungen

Die Umsetzung des 4. EU-Eisenbahnpakets in der Schweiz hat weitreichende Auswirkungen auf die Rechte von Menschen mit Behinderungen: Die europäischen Vorschriften gehen beim Schutz von Menschen mit Behinderungen deutlich weniger weit als das Schweizer Recht. In Zukunft soll zudem vermehrt die Europäische Eisenbahnagentur (ERA) für die Bewilligung von Eisenbahnfahrzeugen in der Schweiz zuständig sein. Bei Verfahren der ERA besteht jedoch keine Möglichkeit für die Behindertenorganisationen, mit einer Verbandsbeschwerde an ein Schweizer Gericht zu gelangen. Eisenbahnfahrzeuge wie der FV-Dosto der SBB, gegen den Inclusion Handicap bis vor Bundesgericht teilweise erfolgreich Beschwerde geführt hat, könnten nicht mehr von einem Schweizer Gericht auf ihre Vereinbarkeit mit dem Schweizer Behindertengleichstellungsrecht überprüft werden. Dadurch wird das im Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) statuierte Verbandsbeschwerderecht der Behindertenorganisationen bei Eisenbahnfahrzeugbewilligungen ausgehebelt.  

Die zunehmende Umsetzung europäischer Vorschriften im Eisenbahnrecht inklusive Auslagerung von Kompetenzen an die ERA darf nicht dazu führen, dass nationale Vorschriften im Behindertengleichstellungsrecht beschnitten oder ausgehebelt werden. Inclusion Handicap hat daher im Vernehmlassungsverfahren (externer Link) zum 2. Schritt der Umsetzung des 4. EU-Eisenbahnpakets eine Stellungnahme eingereicht. Der Ergebnisbericht des Vernehmlassungsverfahrens steht noch aus. Der Bundesrat sieht in seiner Antwort auf eine entsprechende Interpellation von Gabriela Suter (SP/AG) jedoch keinen Handlungsbedarf – trotz weitreichender Auswirkungen auf die Rechte von Menschen mit Behinderungen.


Medienspiegel

Ausgewählte Beiträge mit Inclusion Handicap.